Selbstwertgefühl aufbauen ist Arbeit
Und wenn ich Arbeit sage, dann meine ich auch damit, dass man dieses Selbstwertgefühl nicht irgendwie hat oder nicht hat. So wie die Haarfarbe oder die Augenfarbe, sondern ganz, ganz viel erlernbar ist.
Was wir wissen, ist inzwischen auch, warum das biologisch Sinn macht.
Claudia:
Okay, das finde ich spannend, weil ich kann mir das super schön vorstellen kann, das mit dem Selbstwert-Konto. Nur haben wir das nicht im Gehirn. Irgendwas im Gehirn passiert doch da aus meinem Verständnis heraus. Wenn wir uns gerade in so einer Krise damit mit dem Gedanken beschäftigen, inwieweit ich mich auf mein Team verlassen konnte, inwieweit konnte ich mich darauf verlassen, dass ich von meinem Unternehmen die richtigen Informationen zur richtigen Zeit bekomme? Das alles hat mich gestärkt.
Wenn ich mich darauf konzentriere, statt darauf, wie schrecklich das alles ist. Ein Beispiel fällt mir ganz besonders ein. Da ging es um stationäre Pflegeheime. Da wurde ja auch in den Zeitungen, in den Medien immer gesagt, dass die Bewohner so entsetzlich leiden. Dann habe ich ja den Fokus auf das Leid.
Andere wiederum haben erzählt: „Ja, die Bewohner haben den Kontakt zu ihren Angehörigen vermisst. Wir haben aber ganz viel getan über Videotelefonie, über die Beschäftigung miteinander. Wir hatten selbst auch mehr Zeit für die Bewohner, weil die Angehörigen ja weg waren.“ Sie haben das Positive, statt dem Drama gesehen. Ich meine, dass macht etwas bei uns im Gehirn. Stimmt das, oder ist es ein Trugschluss von mir?
Handlung oder Ohnmacht
Dr. Franz Hütter:
Wenn wir einige Dinge wirklich gesichert über das Gehirn sagen können, ist es das dies ganz erheblichen Einfluss hat auf die Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert. Ich bin im Prinzip entweder in der Annäherungs-Motivation. Ich sehe das Positive. Ich sehe das, was ich tun kann. Damit werden Handlungs-Areale angesprochen. Das heißt, ich überlege mir schon, was ich als nächstes tun kann, um die Situation noch ein Stück weit besser unter Kontrolle zu kriegen.
Und wenn ich sehr, sehr stark im Negativen bin und mich auf Aspekte fokussiere, die letztendlich meine Ohnmacht inszenieren, dann bin ich natürlich im Gefahren-Modus im Abwehr-Modus und bin eher in der Duckstellung.
Neuroplastizität – Das Gehirn verändert sich ein Leben lang
Das Thema ist vielleicht vom Thema Schmerzen bekannt. Wenn ich die zulange habe, dann chronifizieren die und in einer ganz ähnlichen Art und Weise passiert das auch im Gehirn. Das ist so die dunkle Seite dieser tollen Eigenschaft des Gehirns, nämlich der Neuroplastizität. Das Gehirn verändert sich ein Leben lang mit Erfahrung.
Was aber auch bedeutet, wenn ich über ganz lange Jahre lang trainiere, immer auf das Negative zu fokussieren, dann wird sich auch das verstärken. Ich werde immer weniger die Erfahrung machen, weil ich sie erst gar nicht mehr wahrnehme, wo ich selbst etwas bewirken kann. Selbstwirksamkeit. Stattdessen werde ich immer mehr erlernen: „Ach ja, egal, was ich tue, egal, was ich mache. Es bringt ja sowieso nichts. Ich bin das arme Opfer!“
Und das ist eben das, was Seligmann vor einigen Jahrzehnten „Erlernte Hilflosigkeit“ genannt hat. Das ist das lerntheoretische Modell der Depression. Das heißt, ich werde depressiver.
Auswirkungen von Stresshormonen im Gehirn
Und auf der biologischen Seite passiert kumuliere ich natürlich das Stressgeschehen. Ich habe immer mehr von dem Stresshormon Cortisol im Blut, aber eben auch im Gehirn.
Das hat zwei Auswirkungen:
Eine Auswirkung ist. Mein Frontalhirn, der Sitz des rationalen Denkens, der Sitz der Fähigkeit, dass ich mir Ziele setzen kann, dass ich Strategien entwickeln kann, wie ich die Ziele erreiche, dass ich auch ein gewisses Controlling machen kann. „Mensch, bin ich auf dem richtigen Weg, muss ich die Route korrigieren?“ Das heißt, all das, was wir wirklich brauchen, um eine Krisensituation zu bewältigen. Das funktioniert nur bei einem mittleren Erregungs-Level.
Das kennt der eine oder andere vom EEG beim Neurologen. Wenn diese Zacken in den hohen Beta-Bereich kommen, dann geht hier das Stirnhirn in die Grätsche, weil das nicht dafür gemacht ist, bei Übererregung zu funktionieren.
Bei Übererregung, das ist in der Regel eine Gefahr, da soll man irgendwie möglichst schnell die Beine in die Hand nehmen und vor dem Tiger auf den Baum fliehen. Oder was auch immer.
Das heißt, wir funktionieren in einem mittleren Erregungs-Level sehr gut.
Nächste Seite: Dauerstress macht doof